OM-eine Landkarte des Bewusstseins

 

„OM! Dieses ganze Universum ist OM. Alles, was war, ist und sein wird, ist OM.“

Mandukya Upanishad

 

Die Silbe OM ॐ ist im tantrischen, besonders im kaschmirischen Yoga, weit mehr als ein Laut. Sie wird verstanden als Ausdruck von Spanda, dem ewigen Pulsieren des Bewusstseins, das in jeder Bewegung und in jedem Atemzug gegenwärtig ist. Wer OM tönt, ruft nicht etwas Äußerliches an, sondern bringt den eigenen Körper, Geist und Atem in Einklang mit dieser ursprünglichen Schwingung.

 

Die drei Laute A – U – M sind wie ein innerer Zyklus. A öffnet den Raum und weitet das Erleben, U trägt und verbindet, lässt Vielfalt entstehen, und M sammelt die Energie zurück in die Quelle. Wenn der Laut schließlich in die Stille verklingt, bleibt der Bindu, jener Punkt, in dem alle Möglichkeiten ruhen. OM ist also kein abgeschlossenes Wort, sondern ein fortwährender Prozess von Ausdehnung, Entfaltung, Rückkehr und Auflösung.

 

Auch das grafische Symbol ॐ verweist auf diesen Weg. Die drei Kurven repräsentieren Wachzustand, Traum und Tiefschlaf, während der Punkt über ihnen das vierte Bewusstsein, Turiya, bezeichnet – reines, unbegrenztes Sein. Der Halbkreis, der diesen Punkt abgrenzt, ist das Zeichen für Maya.

 

Im Alltag bedeutet Maya nicht, dass die Welt nur Täuschung wäre. Vielmehr zeigt sie, wie wir Wirklichkeit durch unsere eigenen Brillen wahrnehmen. Wer in die Yogastunde kommt und denkt „Ich bin unbeweglich, ich werde das nie schaffen“, erlebt bereits Maya: eine Geschichte, die das eigentliche, offene Erleben überlagert. Wenn im Nia eine Teilnehmerin beim Drehen plötzlich denkt „Das sieht sicher komisch aus“, dann ist Maya am Werk – es ist nicht die Bewegung selbst, die begrenzt, sondern die innere Interpretation. Oder im Qi Gong kennen wir das: man macht eine fließende Übung, und noch während der Körper sich wiegt, kommt der Gedanke „Ich mache das vielleicht falsch“.

 

Maya ist genau dieses ständige Färben, Bewerten und Verstricken. Im tantrischen Verständnis ist sie kein Feind, sondern das lebendige Spiel des Bewusstseins. Sie bringt Formen, Rollen und Geschichten hervor – bunt, kreativ, manchmal verwirrend, aber nicht endgültig.

OM erinnert uns daran, dass hinter dieser Vielschichtigkeit eine stille Weite liegt, die unberührt bleibt. Wenn wir den Klang durch den Körper schwingen lassen und sein Verklingen bewusst wahrnehmen, spüren wir diese Weite direkt.

 

So verstanden ist OM eine Praxis, die mitten im Alltag wirkt. Ein Atemzug im Stau, ein tiefer Laut vor einem wichtigen Gespräch, ein inneres OM, wenn die Gedanken kreisen – all das bringt uns zurück zur Quelle. Es zeigt: wir können Maya erkennen, ohne sie ablehnen zu müssen. Wir dürfen in ihr tanzen, aber auch immer wieder durch sie hindurchschauen.

 

OM ist damit nicht nur ein Klang, sondern eine Erfahrung: eine Rückverbindung mit dem Ursprung, der in jeder Bewegung, in jeder Stille und in jedem Lächeln lebendig ist.

 

 

Wachzustand: Bewusstsein, das nach aussen gerichtet ist (Sinne)


Traumzustand: Bewusstsein, das nach innen gerichtet ist (Bilder & Imagination)


Tiefschlaf: Bewusstsein ruht im Unbewussten (kein Traum, kein Wunsch)


Turiya: Reines unbegrenztes Sein


Maya: Der Schleier der Wahrnehmung, Kraft der Illusion

 

 

Wie töne ich OM?

Setze dich aufrecht und entspannt hin. Atme tief ein. Beginne mit einem offenen „A“, das den Bauch und Brustraum weitet. Lass das „U“ durch den Hals fließen und das „M“ im Kopfraum vibrieren. Spüre die Schwingung im ganzen Körper. Verweile einen Moment in der Stille nach dem Klang. Wiederhole dies 3–5 Mal, ohne Anstrengung, nur als Lauschen in dich selbst.

 

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